Die Stille in mir

“I know a place where we can go” (Silent Radio)

Ich schließe die Augen und träume mich in die Berge. Ich sehe Nebel zwischen den Bergriesen meiner Vergangenheit. Das Rubihorn. Der Hohe Ifen. Das Nebelhorn. Alle noch da, seit Jahrtausenden. Gebilde aus Staub und Stein, die mich staunen lassen. In meinem Traum betrete ich den Raum der Stille, ganz oben unter dem Dach der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie in Oberstdorf im Allgäu. Deren Eingangspforte der Spruch ziert: Porta patet – magis cor. Die Tür steht offen – mehr noch das Herz.

            In diesem Raum kann ich immer wieder versuchen, die Ruhe ein- und auszuatmen. Im Traum landen Seeadler und Hyazintharas mit ihren weiten Schwingen auf dem Dach, fangen meine Gedanken auf und tragen sie auf ihrem Flug über Landschaften in die Ferne. Dorthin, wo die Bücher geschrieben werden, die Texte für die Serien und Filme und die Songs, die den Erdball friedlich umkreisen.

            Während die Vögel über mir wachen versuche ich es wieder. Atmen. Es ist ganz einfach. Scheinbar. Wenn ich nicht immer so schnell abgelenkt wäre. Jetzt: Einatmen und dabei langsam bis vier zählen, bis die Luft vom Kopf bis zum Bauchchakra in mir angekommen ist. Wusstest du, wieviel beim einfachen Zählen von eins bis vier in einem Kopf passieren kann? Es kann sein, dass ich in dieser Zeitspanne meine gesammelten Kindheitstage neu durchlebe. Oder von mir zu dir abschweife. Oder über Gott nachdenke.

            Nach dem Einatmen kommt die Pause. Ich muss mindestens bis sechs zählen. Manchmal kriege ich dann schon keine Luft mehr, zu viele Viren schwirren durch den Raum. Welche Gedanken es in dieser Pause bis in mein Gehirn schaffen, kaum auszumalen. All das Gewusel von draußen strömt dann in meinem Großhirn herum wie nix Gutes. In solchen Momenten fällt mir dann auch gerne meine große Liebe aus dem Kindergarten ein. Er hieß Ralf, sein Vater war Schäfer. Mein Traum speist sich aus verschwommenen und aus klaren Erinnerungen, die mich direkt auf die Wiese meiner Kindheit versetzen, auf die Wiese mit den Schafen in Dachtel. Wo es sogar im Sommer richtig still sein konnte, wenn die Tiere schliefen oder nur leise blökten. In dieser Gegend stand im August der Weizen hoch, und die Katzen gingen ihrer Wege. Ich konnte die Stille dort fassen, auch in unserem alten Haus. Die Stille zwischen den Stunden mit tropfendem Eis und unseren nackten Füßen auf der Veranda. Die Stille zwischen den Nachmittagen mit Limonade und den lauen Abenden, an denen die Grillen musizierten.

            Es ist die Stille der Vergangenheit, die die Stille der Gegenwart zur ewigen Stille meiner Zukunft macht. Die Stille, die ich in den Großstädten nicht finden kann. Manchmal, nur manchmal, wenn ich mich in einem Hinterhof verstecke, in dem die Mülltonnen nicht mehr geleert werden. Die Stille, die auch in den Dörfern ohne Umgehungsstraßen verloren gehen kann. Die Stille, die im Universum herrscht, wenn nicht gerade Satelliten ineinander stürzen oder Asteroiden mit Planeten zusammenstoßen. Die Stille unter Wasser, wenn keine U-Boote die Schallwellen der Delphine und Wale stören.

            Ich liege im aufgeheizten Raum der Stille auf meiner Yogamatte, Traumschwaden verhüllen meinen Kopf. Ich denke an Nebelmaschinen und versuche dabei auszuatmen und bis vier zu zählen. Bis zur nächsten Pause, in der ich gedanklich die Idee streife, dass es auf dieser Welt nur einen einzigen Ort der Stille gibt. Ein Ort, der sich in der Gegend meines Herzens so gut es geht vor der Außenwelt verbirgt. Ich schließe die Augen und wache auf. Über mir scheint die Sonne.

Beim Schreiben hörte ich “Silent Radio“ von Silent Radio/Single Silent Radio (Radio Edit)/2022.

Veröffentlicht inProsa

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